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Angenommen Sie kaufen den Herold als Mobipocket-Buch und nach drei Monaten gibt ihr PDA den Geist auf. Angenommen Sie kaufen George Orwells 1984 und nach drei Monaten gibt es keinen Zugang zu mehr, weil Amazon was mit dem Copyright verpeilt hat. Angenommen Sie lizenzieren für die Uni einen Zugang auf PDF-Onlinebücher und nach drei Monaten sagt Thieme: „Tut mir leid, aber wir stellen jetzt auf Flash um.“ In allen diesen Fällen ist die weitere Nutzung nicht mehr so möglich, wie zum Zeitpunkt des Kaufs gedacht.
Die inhärenten Eigenschaften der digitalen Medienform machen aus einem Besitzwerb, der sich über Jahrtausende in unser Bewußtsein eingeschleift und unsere Kultur geprägt hat, immer mehr einen Besitz-auf-Probe, ein nur geliehenes Habe-Vergnügen, jederzeit bedroht durch die lizenzierte lange Leine, einer Art Remote Control in den Händen der großen und kleinen Anbieter, die es ihnen erlaubt, E-Books zu löschen, Artikel zu entfernen, Formate umzustellen, usw. ohne dass der Lizenznehmer einschreiten könnte. Ob diese mal hierhin, mal dorthin zappen, je nachdem wie es ihnen ihr Kassenstand oder ihre Aktionäre oder sonstwas opportun erscheinen lassen, hängt nicht alleine von deren Größe ab. Global Player können sich dies sicherlich eher leisten, aber es hängt auch von der Marke ab – siehe die Preise, die Nature und NEJM ganz unverblümt verlangen.
Dumm, wer – wie ich – immer an die schöne neue Onlinewelt geglaubt hatte: Dass diese Probleme mit sich bringt, an die vorher keiner gedacht hat, und die es mit einem Print-Buch nie gegeben hätte, war doch naheliegend, oder?
Die ersten beiden Fälle ist man ja (nur) persönlich betroffen, bei Thieme sieht es aber anders aus: Hier steht man mit zigtausend Euro bei dreitausend Studenten im Wort. Aus IHREN Studienbeiträgen wurden die Thieme-Bücher gekauft, IHNEN hat man versichert, dass sie PDFs bekommen würden, mit den man auch offline oder am iPhone/iPad arbeiten kann. Das soll jetzt nicht mehr möglich sein? (Der Download einzelner Seiten als PDF zählt für mich nicht als PDF-Nutzung, dazu ist es zu kompliziert und langsam – noch komplizierter als die bisherige Nutzung der in zig PDFs atomisierten Thieme-Bücher).
Was gibt es für Nachteile? (Fällt Ihnen noch was ein?)
– keine offline-Nutzung
– keine offene Plattform wie PDF
– keine Verlinkung und Einbettung in Lehr- und Lernsystemen möglich
– kopieren und drucken nur sehr eingeschränkt möglich
– keine iPhone/iPad-Nutzung
Hinzu kommen rechtliche Bedenken: Wurde man vor dem Vertragsabschluß auf diesen Fall hingewiesen? Wenn ich ein Auto mit 4 Rädern kaufe, dann nehme ich doch nicht hin, dass man mir nach einiger Zeit zwei Räder ab- oder anmontiert, mit dem Argument, es wäre eine Verbesserung? Was sagen die Juristen dazu? Gekauft wie gesehen? Gibt es in einem solchen Fall ein Sonderkündigungsrecht?
Ich habe schon früher über meine Bedenken bzgl. von Flash berichtet. Solange die Flash-Technik nur wegen der Angst der Verlage vor dem Untergrundkopieren benutzt wird, kann daraus – wie bei DRM – nichts Gutes und Zukunftsweisendes entstehen. Ich glaube auch nicht, dass dies den Bedürfnissen von Nutzern und Bibliotheken entgegenkommt (siehe HighWire-Umfrage), aber ich lasse mich in beiden Fällen gerne eines besseren belehren.
Generell gilt, was ich im letzten med geschrieben habe:
Heutzutage bestehen Onlinebücher im akademischen Bereich meist aus PDF-Dateien, während sich im Consumer-Bereich eine Vielzahl DRM-geschützter Formate tummeln, die hauptsächlich dazu dienen, die Profite der Autoren und Verlage zu schützen. Die oft inkompatiblen und proprietären Formate behindern massiv den freien (bestimmungsgemäßen?) Gebrauch der Texte: Offline-Nutzung – unmöglich! Cut&Paste? Vergiß es! Lesen auf dem Smartphone? Dann bezahl nochmal! Kopierschutz-Maßnahmen zur Verhinderung unerlaubter Weitergabe behindern und verhindern in der Regel die Nutzung von E-Books, während die Leser die Inhalte ausdrucken, kopieren und mit (Gleichgesinnten) teilen wollen. Zusätzliche Features – mit denen die Verlage DRM-Maßnahmen oder höhere Preise gerne begründen – werden nicht benötigt: Online-Bücher sollen gefälligst leicht und einfach zu nutzen sein. Mehrwerte sind zwar ok, aber nicht wenn es die Zugänglichkeit einschränkt oder den Preis erhöht. Während sich zukunftsweisende Formate (wie ePub) und Geschäftsmodelle (Open Access, Online preiswerter als Print) langsam beginnen durchzusetzen, steuern Anbieter wie Elsevier, Apple und neuerdings leider auch Thieme in die genau entgegengesetzte Richtung: Vermeidung, Verhinderung, Verteuerung.
Wie gesagt, Thieme macht sich mit der Abkehr von PDF unter Wissenschaftlern und Studenten garantiert keine Freunde (von Bibliothekaren ganz zu schweigen). Gerade in der Wissenschaft zählt das einfache (Mit)Teilen von Texten immer mehr zu den Notwendigkeiten. Was für ein Aufschrei würde durch diese Gemeinde gehen, wenn – angenommen – auch die Zeitschriftenartikel eines Tages mal DRM-geschützt würden! Und doch müßte genau dieses laut Argumentation der Verlage eigentlich der nächste logische Schritt sein: auch hier gibt es illegale Kopien und Kannibalismus. Aber das traut man sich dann doch nicht und dazu ist das Zeitschriftengeschäft doch nicht so von Einnahmeausfällen bedroht wie das Lehrbuchgeschäft. (Aber wie stellen sich Verlage den Übergang ins digitale Zeitalter überhaupt vor? Schmerzfrei, ohne vorübergehenden Umsatzrückgang, ohne sich durch intelligente, faszinierende Angebote zu profilieren – das wird sicher nicht gehen. Die Frage ist nur, ob Verlage ihre Ziele mit den Bibliotheken oder ohne sie erreichen wollen. Oder ist die Frage vielmehr, wie Bibliotheken verhindern können, dass aus der Lehrbuchtroika Elsevier – Thieme – Springer ein kostentreibender Zwei- oder Einspänner wird?)
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6 comments for “Thieme stellt e-Books um: Flash statt PDF”