Einige nicht repräsentative Gedanken über Begeisterung und Bedenken.
Bücher und Zeitschriften, das ist ja so altmodisch, da höre ich im Kopf ja noch die Druckerpresse quietschen, jetzt gibt es doch UpToDate, AMBOSS, eRef, Clinical Key, e.Medpedia, Dynamed und viele andere mehr, die versuchen, medizinisches Wissen in Form zu bringen, so dass man es auch wissen kann, wenn man keine Zeit zum Lesen hat.
Die amerikanischen Produkte sehen sich wohl ohnehin mehr als Übergangsstadium zum Behandlungsroboter, dem man Wissen in Form von computerlesbaren Algorithmen viel leichter beibringen kann als einem Arzt oder einer Ärztin. Die traditionellen (deutschsprachigen) Verlage, die ich kenne, versuchen eher, bestehende Inhalte kostengünstig zweitzuverwerten, indem man gefühlte 100 Jahre zu spät darauf kommt, Wissen irgendwie internetgerecht aufzubereiten – wenn man bedenkt, dass die Idee zum Verlinken von Texten schon von 1945 ist (Hypertext!).
Wieder einen anderen Weg geht das Startup hinter AMBOSS, das sich gleich auf Prüfungswissen fürs Studium spezialisiert hat, wo es ja nur ums Examen geht und nicht um Leben und Tod. Mit interaktiven Features, audiovisuellen Inhalten und moderner Optik ist das Tool im Krankenhaus gerade bei jungen Ärztinnen und Ärzte sehr beliebt – es muss wohl an Smartphone und mobilem Internet liegen, dass so etwas erst 30 Jahre nach CD-Rom, World-Wide-Web und Multimedia richtig populär wird.
Was mir immer wieder auffällt ist diese Begeisterung – bei den Jüngeren für AMBOSS, bei den älteren für UpToDate. Dies sind die beiden Produkte, die wir in den Krankenhäusern der österreichischen Vinzenz Gruppe zentral anbieten, daher sind sie in diesen Ausführungen natürlich überrepräsentiert, Kolleg/innen erzählen aber Entsprechendes über eRef, Clinical Key und andere.
Meine Vermutung ist, dass bei den Ärzt/innen das wachsende Auseinanderklaffen zwischen den hohen Erwartungen an das eigene Wissen und dem gefühlten Wissensmangel adressiert wird. Wann soll ich denn das alles lesen, was für mein Fach publiziert wird? Und was, wenn ich dann etwas nicht weiß, was ich aber wissen sollte? Die genannten Produkte bieten das gute Gefühl, Zugriff zu einer Sammlung von Wissen zu haben, mit dem (subjektiven) Versprechen der Vollständigkeit, der Aktualität, der Autorität und der Verfügbarkeit in Entscheidungssituationen durch die zusammengefasste Form und den mobilen Zugang. Ein bisschen wie eine Speichererweiterung für das eigene überforderte Hirn, wer wäre darüber nicht froh?
Im Rausch dieses guten Gefühls scheint der Blick hinter die Oberfläche nicht so gefragt – und damit meine ich nicht mal so grundsätzliche Fragen wie die nach der entstehenden Abhängigkeit von solchen Produkten oder danach, ob man den algorithmengesteuerten Arzt überhaupt will.
Aktualität und Quellen
Jeder will natürlich aktuelles und belegtes Wissen. UpToDate scheint zumindest diesen Aspekt wirklich ernst zu nehmen und gibt neben vielfachen Quellenangaben zu jedem Artikel bekanntermaßen auch den Stand des Wissens an. Die anderen mir bekannten (deutschsprachigen) Produkte nehmen das eher locker: Teilweise gibt es überhaupt kein Datum zum Artikel, Quellenangaben zu Behauptungen sind generell keine Selbstverständlichkeit, und wenn Quellen angegeben sind, sind diese teilweise erstaunlich alt (meine Durchschnittsschätzung über mehrere Produkte liegt bei ca. 10 Jahren), stammen aus veralteten Ausgaben von Lehrbüchern etc. Oder man macht gleich gar keine Ankündigungen über Aktualität oder Aktualisierungen, sondern „vereint das medizinische Wissen seit Generationen mit aktuellsten Beiträgen aus Wissenschaft und Forschung.“ Ein schönes Motto für die Zweitverwertung von schnell alternden Inhalten.
Dauerhaftigkeit
Die Inhalte der Produkte sind ja ausschließlich online verfügbar, Änderungen werden seitens des Anbieters ohne Ankündigung und ohne Dokumentation durchgeführt. Bei UpToDate kann das ja ganz im Sinne der Aktualität durchaus mehrmals im Jahr sein, andere haben es wie gesagt nicht so eilig oder man weiß es einfach nicht. Es gibt bei keinem mir bekannten Produkt ein online einsehbares, exaktes Änderungsprotokoll oder ältere Versionen zum Abruf. Das heißt, eine Information, auf die ich mich gestern noch verlassen habe, kann morgen kommentarlos durch eine andere ersetzt werden – erinnert sich noch jemand an das Buch 1984?
Bei uns gab etwa UpToDate auch auf Anfrage für ein Gerichtsverfahren eine ältere Fassung eines Artikels nicht heraus, vielleicht speichern sie das nicht einmal – auf eine Stellungnahme des Anbieters hierzu warte ich seit Jahren vergeblich. Technisch wäre dies natürlich ohne weiteres möglich, was die kostenlose Wikipedia seit vielen Jahren beweist, wo alle Änderungen öffentlich nachvollziehbar sind.
Ärztinnen und Ärzte, die ich entsprechend befragt habe, haben eher mit Schulterzucken reagiert, ich glaube, sie sind froh, überhaupt etwas zum Nachschlagen zu haben. Sales-Mitarbeiter/innen empfehlen, Artikel doch sicherheitshalber auszudrucken … WTF? Wie man heutzutage im Internet so sagt.
Haftungsbeschränkung
Dass die Anbieter von Wissensmedien nicht dafür verantwortlich sein wollen, wie ihre Inhalte angewendet werden, finde ich verständlich, dass sie sich von jeglicher Verantwortung für ihre Inhalte distanzieren, eher nicht – man hat sich halt dran gewöhnt, so wie überall: Softwareproblem, da kann man nichts machen. Sie alle kennen die v.a. englischsprachigen und großgeschriebenen Formulierungen: „ […] AND ITS SUPPLIERS AND LICENSORS PROVIDE THE SERVICES AND ALL CONTENT AND ANY SUBMISSION INCLUDED IN OR ACCESSIBLE FROM THE SERVICES „AS IS“ AND WITHOUT WARRANTIES OR REPRESENTATIONS OF ANY KIND […]”. Ich bin kein Jurist, aber die Richtung der Ansage ist klar, oder?
Eine spannende Spielwiese der Verantwortungsdrückerei ist das Medizinproduktegesetz, deren Anwendung auf Wissensressourcen umstritten ist. Sehr interessant in diesem Zusammenhang folgendes Dokument des Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM): https://www.bfarm.de/DE/Medizinprodukte/Abgrenzung/MedicalApps/_node.html
Die Anbieter versuchen sich meiner Meinung nach jedenfalls durch interessante Klauseln in den allgemeinen Geschäftsbedingungen vor etwaigem Ärger zu schützen. Ein Produkt verspricht etwa auf der Webseite „konkrete Behandlungsempfehlungen“, zum anderen erteilt man laut AGB aber „ausdrücklich keine Ratschläge oder Empfehlungen hinsichtlich der Therapie konkreter Erkrankungen“. Was war gleich nochmal die Aufgabe eines Krankenhauses?
Daten
Wo gehobelt wird, da fallen Späne und im Internet eben Daten, je personenbezogener, desto besser – für die Datensammler jedenfalls. Kein Wunder, dass Anbieter gerne die Anfragen an ihr System mit persönlichen Nutzeraccounts zu verknüpfen und so spannende Einblicke in das Verhalten unserer Mitarbeiter/innen bekommen. Ich bin kein Datensammler, aber meine Fantasie ist blühend: Symptome, Diagnosen, Werbeplugins, Geodaten, Zeitstempel, Häufigkeiten, Abteilungszugehörigkeiten, Fachgebiete, Medikation, Privathandys, Passwörter, App-Berechtigungen, Datenlecks. Lesen Sie mal die Datenschutzerklärungen der Anbieter: Während sie alte Versionen der Inhalte gerne löschen (s.o.), speichern sie Nutzungsdaten nur zu gerne und teilen sie z.T. auch mit Facebook, Google etc. – sicher nicht alle und ganz sicher irgendwie anonymisiert und ganz ganz sicher ohne böse Absichten, aber die Richtung ist wieder mal klar finde ich …
Wer ist eigentlich wessen Kunde?
Bei der persönlichen Registrierung akzeptieren die Mitarbeiter/innen gewissermaßen als Privatpersonen die AGB und Datenschutzerklärungen der Anbieter für die doch eigentlich dienstliche Nutzung des Services, die vielfach dann auch noch auf privaten Mobilgeräten erfolgt – das Krankenhaus zahlt quasi nur noch die Rechnung und verhilft den Anbietern zu neuen „Kunden“ und Daten, Kontrolle über die Kommunikation zwischen Anbietern und Mitarbeiter/innen, über den Datenfluss, die Sicherheit der Systeme etc. gibt es keine mehr. Vielleicht wäre es Zeit für umgekehrte Verhandlungen: Gegen entsprechende Gebühren ermöglicht das Krankenhaus den Wissensanbietern, die Mitarbeiter/innen als (Werbe-)Kunden zu gewinnen und Nutzungsdaten zu sammeln? Das Wissen ist dann nur noch „Content“ wie eben auch bei werbefinanzierten Gesundheitsseiten im Internet …
Die Vermischung von dienstlicher und privater Nutzung ist irritierend. Aus persönlichen Gesprächen weiß ich, dass Mitarbeiter/innen auch bei externen Anbietern die gleichen Zugangsdaten wie im hochgesicherten Krankenhausnetzwerk verwenden. Ich nehme an, weil sie naiverweise glauben, es wäre ja ein Angebot ihres Unternehmens, das sie da nutzen – oder es ist ihnen einfach egal. Ob sie auch immer wissen, in welches Suchfeld sie gerade welche Informationen eingeben? Ob diese dann in der elektronischen Krankenakte landen oder „im Internet“? Und es stimmt ja auch: Wer soll sich denn da noch auskennen?
Ich möchte hier bei aller Kritik die genannten Produkte nicht schlecht reden. Es wird höchste Zeit, angesichts der riesigen Wissensverfügbarkeit und der raschen Erneuerung neue Wege und neue Medien zu finden. Vieles, was hier entstanden ist und entsteht, ist zweifellos bemerkenswert, dringend notwendig und eine große Hilfe im klinischen Alltag.
Wenn ich selbst mal als Patient im Krankenhaus landen sollte, bin ich wahrscheinlich froh, wenn der Arzt oder die Ärztin in einer umfassenden Wissensdatenbank nachschaut, statt nur eine von drei Lieblingsdiagnosen zu stellen. Noch froher wäre ich allerdings, wenn ich wüsste,
- dass er oder sie dann auch wüsste, von wann oder woher dieses Wissen stammt,
- dass dort morgen nicht vielleicht etwas ganz Anderes steht (mit ärztlichem Schulterzucken),
- dass das Wissen nicht vom Anbieter für meine Behandlung für ungeeignet deklariert wurde
- und dass seine Abfrage nicht gleich bei Google landet, wo ich selbst 5 Minuten später die gleiche Diagnose recherchiere.
All das wäre nicht sooo schwer zu korrigieren, ein wenig Willen seitens der Anbieter und ein wenig Nachdruck seitens der Krankenhausbibliotheken braucht es aber schon. Vielleicht kann dieser Artikel einen Impuls in diese Richtung leisten …